Herrmann Hiller

Architekt, Künstler

die sonne färbt den schnee so rot wie auch karyne als sie darüber nachdenkt, schon wieder älter zu werden. endlich über achtzehn. so steht die junge gräfin karyne – die prinzessin – am fenster und schaut auf den schnee und bemerkt nicht das rote licht und auch nicht dass sie selbst errötet, während sie an die zukunft denkt. das mit der prinzessin stimmt natürlich nicht, das war etwas, was sie sich nur einbildete. doch tun wir ihr den gefallen und nennen sie weiter prinzessin und lassen die gräfin aus der geschichte verschwinden und in einen fluß stürzen und im nächsten dorf wieder auftauchen.

mehr soll hier nicht über ihre zukunft verraten werden, so steht die prinzessin am fenster und sieht den fluß, der bereits zugefroren war und erinnert sich an ihre erste platte die sie gehört hatte – madonna ,,true blue“ – natürlich nur heimlich, da es ja für eine prinzessin etwas ungewöhnlich war eine schall platte zu besitzen. zur information: die prinzessin ist eine relativ zierliche person mit einer leichten neigung zu ohnmachtsanfällen.

um ehrlich zu sein, langweilt sich die prinzessin da stehend an ih rem fenster und so schön dieser fluß auch im winter unter dem schnee unter der sonne errötet, so eintönig ist dieser anblick in den jahren geworden. sie sehnt sich so sehr nach der zukunft von der ihr baron eigenheim so viel erzählt hatte, und die gedanken schweifen besonders seit ihr vater scheerbart weg war. es mischen sich die neugierde und die angst, die sie immer mit den erzäh lungen aus der zukunft verbunden hatte.

karyne findet den namen eigenheim etwas absonderlich, nein eigentlich findet sie ihn scheußlich und nennt ihren eigenheim heimlich nur für sich an ih rem fenster: horst, wenn sie an ihn und die erzählungen denkt, wird ihr fast schlecht vor sehnsucht und sie fürchtet schon wie der zu erröten. Was solls, es ist ja auch niemand da, der es sehen könnte. allein schon dieser geruch, den sie sich vorgestellt hatte. daß die fahrzeuge mit bratenfett betrieben wurden, machte ihr den gedanken nicht mehr so schmackhaft.

aber all die anderen für sie fantastisch klingenden erzählungen von der weltausstellung, die horst in türkhain gesehen hatte, als er seinen 97. geburtstag feierte. zu dieser weltausstellung war er mit seinem 378-fire un terwegs. si senor. horst erzählte immer, das keiner mehr seinem essen hinterherlaufen musste und sich so neue beschäftigungen suchen konnte. es gäbe auch extra sonderzeichen in der zukunft, sagte horst. auf dieser weltausstellung seien ganz unglaubliche dinge gezeigt worden.

alleine schon die gedanken daran bereiten prinzessin karyne einigen schwindel. sie malt sich immer die gan ze zukunft aus und meint alle anderen denken immer nur an die details. ist das ihr ernst, wurde sie von eigenheim einst gefragt. sie antwortete ihm – eher schon. aber was meinte sie mit eher schon. das gab es doch erst in der zukunft, daß eine spanne zwi schen ernst und nichternst mit einer prozentualen aufteilung ge messen werden konnte. das war auch eines jener so fantastisch klingenden details aus den erzählungen horsts aus der zukunft.

es gab da messgeräte, zum beispiel das artometer, die eben diese spanne zwischen kunst oder keine kunst auf einen prozentualen kunstanteil präzisierten. auch dieses ding wurde auf der türkhai ner weltausstellung präsentiert und brachte die besucher in ein unheimliches verzücken. liegt da nicht eine versuchung, die sich karyne eben vorstellt. hätte er eines dieser messgeräte aus der zukunft mitgebracht, würde sie sich überwinden es auf ihren ver meer zu richten, um dann festzustellen, das er nur 63% kunst enthalte, aber was ist der rest. der rest wäre mit keine kunst nicht ausreichend beschrieben.

wäre der rest hautcreme. so fliegen karynes gedanken über den fluß durch das gorntal wieder hin zur weltaus stellung. wie sah dieses türkhain aus in der zukunft, wie waren die häuser gestaltet, was trugen die menschen für kleider, was wollten sie essen. eine der für karyne unverständlichsten erzählungen be schrieb das einzige gasthaus, mit einem namen der so ähnlich wie donut klang, in dem jeder einmal an jedem tag essen musste.

dieses gasthaus gab es nicht nur in türkhain sondern auch in allen anderen städten wie hamburg oder kiev. und an jedem dieser orte konnte man mit einem eigenen geld, dem donut-dollar bezahlen. versäumte man jedoch einen tag seine dd, so lautete die abkürzung, auszugeben, weil man keinen hunger hatte oder sich verbotener weise woanders verköstigen ließ, so wurde man von der hauspo lizei verfolgt. nein, auch eigene anreize wurden geschaffen für die donutsgäste. einmal zum „customer of the month“ gewählt, konnte man alles machen.

findig, wie die bewohner der zukunft waren, und da hatte sich anscheinend nicht viel geändert, umgingen sie das donutgebot in dem sie bananen in kürbisse einpflanzten und so die bananen ungehindert über die grenze bringen konnten. seit damals die freie klasse die karotten, die bananen symbolisierten, die für das weltwirtschaftssystem standen, aufgehoben hatte, war sowieso viel mehr möglich geworden. es wird langsam zu viel sich das alles auszudenken, aber die prinzessin kann sich noch nicht lösen von ihrer erinnerung an die erzählungen des barons.

er flanierte, wie er das so gerne machte, eines tages, so berichtete er, an einem montag durch die straßen – und erzählte weiter von seinem staunen oder besser gesagt – schrecken. mit ohrenbetäubendem lärm schien das haus zu seiner linken alles in sich, durch riesige röhren aus schwarzem grafit mit einem durchmesser von etwa 30 metern, einzusaugen in sein glühendes inneres. wie er später auf seiner dritten reise erst erfuhr, handelte es sich bei dem riesigen gebäude um das haus der bosheit.

karyne erbleichte damals schon bei der erzählung und jetzt, bei der erinnerung, erneut. häuser gab es also in der zukunft die einen eigenen charakter hatten, wie sie es nur von ihren freundinnen kennt. weiter ging horst bis zu der übernächsten kreuzung an dem haus der freude, an dem unzähl bare niedliche freudenhäuschen die fassade ergaben, vorbei. das machte einen viel sympathischeren eindruck auf den baron und er fühlte sich nun wieder wohl in seiner haut und in der zukunft.

am horizont in der ferne sah er, dem sternenhimmel gleich, das haus des schaffens, in dem siebeneinhalbtausend lichter zu blin ken schienen. am vertrautesten schien ihm das haus der schlau heit angelegt. irgendwie erinnerte es ihn an ein fabrikgebäude, das er kannte. magisch zog ihn das haus der schönheit an. die auf die distanz oxidierend schimmernde oberfläche des hauses stellte sich im näherkommen als reines gold heraus, das künstlich nach gebildet war. horst verlor jede scheu und näherte sich dem haus, das einer viel zu großen umkleidekabine glich.

die prinzessin war tet mit annähernd glühender spannung auf den nächsten besuch des barons, bei dem er ihr von dem inneren des hauses der schön heit und die kleider, die in der zukunft getragen wurden, berich ten wollte. aber häuser hatten in der zukunft nicht mehr den nut zen. viele von ihnen waren leer und standen nur zur zierde in der stadt. viele menschen fingen an nur noch zu reisen, sie erfanden dafür immer ausgefeiltere formen von taschen und beutel. Sogar taschen für ihre automobile hatten sie entwickelt – für den notfall.

manche bewohner der zukunft kleideten sich sogar mit taschen. es gab jackentaschen und taschenmäntel. wie weit haben wir noch. nur noch die zone ost hinter uns bringen und dann eine scharfe kurve. Tässig waren in der zukunft wieder nur die helden, denn die hatten kein gepäck. Tängst haben sich ein paar fragen quasi erübri gt. karyne sieht in der zukunft eine chance für die bessere welt und will sie jetzt unbedingt selbst kennenlernen.

Hermann Hiller
Architekt, Künstler

1963 geboren in Dachau
1984 – 90 Studium Architektur
1987 – 93 Studium Bildhauerei an der Akademie der Bildenden Künste
1993 – 98 wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Städtebau und Regionalplanung an der TU München, Prof. F. Stracke
seit 1987 Projekte in der Freien Klasse München
seit 1989 Anziehobjekte
seit 1990 Jour Fix
seit 1991 Architektur- und Städtebauprojekte in sal4
seit 1998 in team 444
seit 1998 freie Tätigkeit im kwin mit Markus Lanz und Toni Thiele
seit 1998 Lehrauftrag für Architektur und Städtebau an der Akademie der Bildenden Künste
1999 Förderpreis Architektur der Landeshauptstadt München
2000 Ausstellung „Helden haben kein Gepäck“ in der Architekturgalerie, München
2000 Ausstellung „Hüllen“, Architekturraum Leipzig
2001 Lehrauftrag Westsächsische Hochschule Zwickau
2001 „Die Kultur der Favela“, Projekt Rio de Janeiro, BR, Einladung Goethe-Institut Rio 45